Kiesabbau in Hagenwerder: Vertrauen verspielt

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3. März 2021. Aufregung bei Marianne Thiel auf der „Ranch am See“ in Hagenwerder, nah am Berzdorfer See. Auf dem Feld gegenüber rollt ein Bagger an. Der Kiesabbau, gegen den sich die Ortschaft lange gewehrt hatte, beginnt. Wie kam es zur „überraschenden“ Genehmigung für den Tagebau am Ortsausgang Hagenwerder? Nach den vorliegenden Dokumenten seit 2009, Gesprächen vor Ort und weiteren Recherchen zum Kiesabbau, ergibt sich für uns folgende Chronologie der Ereignisse:

 

  • Im Jahr 2009 läuft ein Raumordnungsverfahren der Landesdirektion Sachsen mit Sitz in Chemnitz. Die Heim Niederschlesische Kieswerke GmbH & Co. KG will 40 Jahre lang an der Neiße zwischen Hagenwerder und Weinhübel jährlich 150.000 Tonnen Kies fördern. Der Abbau ist in vier Abbaufeldern auf 54 Hektar beabsichtigt.
  • Die gesamte Region spricht sich gegen die Pläne aus, mehr als 600 Einwendungen gibt es.
  • Anfang 2010 genehmigt die Landesdirektion trotz aller Bedenken zwei von vier beantragten Abbaufeldern. Es werden insgesamt 14 Auflagen erteilt. (Pressemitteilung Landesdirektion 29.1.2010)
  • Die Empörung ist daraufhin besonders in Hagenwerder groß. Bettina Barthel vom Interessenverein Wohnpark Hagenwerder sagt in der SZ: „Die Einwände der unmittelbar betroffenen Anwohner wurden in keiner Weise berücksichtigt. Wir wollen hier keinen Kiesabbau, ob mit oder ohne Auflagen.“ (SZ-Artikel 2.2.2010)
  • Februar 2010: Im Stadtrat erklärt Bürgermeister Michael Wieler laut Protokoll: „Durch die Landesdirektion wurden erhebliche Einschränkungen für den Kiesabbau definiert und das Unternehmen muss erst einmal einschätzen, ob sich unter Beachtung dieser Auflagen, ein Abbau des Kieses überhaupt rentiert.“ Offensichtlich geht die Stadtverwaltung Görlitz zum damaligen Zeitpunkt davon aus, das Thema habe sich erledigt.
  • Juni 2010: Eine Bürgerinitiative gründet sich in Hagenwerder und will den Kampf gegen den Kiesabbau bündeln. Die Politik steht geschlossen hinter den Bürgern. So heißt es in der Lausitzer Rundschau: „Die CDU-Görlitz wird alle zur Verfügung stehenden politischen Möglichkeiten, den Kiesabbau zu verhindern, einsetzen„, erklärt der Vorsitzende des CDU-Stadtverbandes, Octavian Ursu. (Lausitzer Rundschau, 21.6.2010)
  • Frühjahr 2019: Es wird ein Verfahren nach Bergbaurecht vom Oberbergamt mit Sitz in Freiberg auf Antrag der Heim Niederschlesische Kieswerke GmbH & Co. KG eröffnet, vom dem allerdings offenbar niemand außerhalb der Verwaltung erfährt. Zumindest finden sich keinerlei Informationen.
  • Es wird ein Abbaufeld beantragt mit einer Größe von ca. 8,5 Hektar. Bei einer Größenordnung unter 10 Hektar ist kein Planfeststellungsverfahren und somit keine öffentliche Beteiligung nötig.
  • Die zuständigen Behörden werden um Stellungnahmen gebeten. Stadt Görlitz und Landkreis Görlitz – wie wir uns erinnern 2009/10 komplett gegen den Abbau – haben keine gravierenden Einwände. Der Stadt geht es nur noch um eine vernünftige Anbindung an die B99. Umweltamt und Gesundheitsamt des Landkreises und weitere zuständige Stellen sehen scheinbar keine Gefahr für Menschen, Tiere und Natur.
  • 2019/20: Nachdem Marianne Thiel von der benachbarten „Ranch am See“ beobachtet, wie Bodenproben für den Kiesabbau genommen werden, fragt sie bei der Stadtverwaltung Görlitz. Dass eine Genehmigung für einen Tagebau vis-a-vis ihrem Grundstück beantragt wurde, erfährt sie nicht. Auch der Ortschaftsrat Hagenwerder wird nicht hinzugezogen. Ebenso finden sich keine Hinweise, dass im Stadtrat oder den zuständigen Ausschüssen informiert wurde.
  • Sommer 2020: Die Gerüchteküche brodelt. Kommt der Kiesabbau doch noch? Die SZ erinnert sich in ihrem heutigen Beitrag: „Denn die Kiesgruben zwischen Sportzentrum und Freibad Hagenwerder waren ausgebeutet. Die SZ fragte damals sowohl im Görlitzer Rathaus als auch im Landratsamt nach, ob man dort von Abbauplänen wisse. Das war nicht der Fall.“ Merkwürdig, hatten beide Behörden doch bereits ihre Stellungnahmen abgegeben bzw. waren über das Genehmigungsverfahren informiert. (SZ-Artikel 5.3.2021, Abo)
  • Ende Dezember 2020: Da es keine Einwände gibt, kommt die Genehmigung zum Abbau am Ortseingang Hagenwerder für zwei Jahre mit Verlängerungsoption auf maximal fünf Jahre. Die Stadtverwaltung Görlitz erhält im Januar die schriftliche Information vom Oberbergamt.
  • 28.1.2021: Im Görlitzer Stadtrat wird der Flächennutzungsplan diskutiert. Aus dem Protokoll: „Einen Konfliktpunkt sieht Prof. Schulze (Fraktion BfG) bei Naturschutzgebieten und Freiräumen in der Flächennutzungsplanung. Ein Abschnitt im Flächennutzungsplan beschäftigt sich mit der Rohstoffgewinnung, konkret mit dem Kiesabbau in Hagenwerder. Er möchte die Gelegenheit nutzen, in der Zukunft gerade auf diesen Punkt die Aufmerksamkeit zu richten. Konflikte sieht er auch hier bei angrenzenden Naturschutzgebieten und der touristischen Entwicklung am Berzdorfer See.“ Zu diesem Zeitpunkt sollte die Stadtverwaltung über die Genehmigung des Kiesabbaus informiert gewesen sein. Dem Stadtrat wird es vorenthalten.
  • 10.2.2021: In einer nichtöffentlichen Sitzung des Technischen Ausschusses informiert Bürgermeister Wieler über die Genehmigung zum Kiesabbau. Diese sei nach seiner Aussage völlig überraschend gekommen.
  • 25.2.2021: Keine Information zum Kiesabbau in der öffentlichen Stadtratssitzung durch den Oberbürgermeister.
  • 3.3.2021: Beginn der Baggerarbeiten für den Tagebau. Bis dahin keine Information des Ortschaftsrates und der Einwohner von Hagenwerder.

 

Sieht es an der B99 künftig so aus, wie in der alten Anlage der Heim Niederschlesische Kieswerke GmbH & Co KG?

Kommunalpolitische Einordnung aus Sicht der Fraktion Motor Görlitz/Bündnisgrüne

Zunächst das Positive: Der Widerstand gegen den unglaublichen Plan, auf einer Strecke von Hagenwerder bis Weinhübel, einen Tagebau zu errichten, der 40 Jahre lang Kiessand abbaggern sollte, ist nicht umsonst gewesen. Es gab vor gut zehn Jahren einen vorbildlichen Zusammenhalt von Bürgerschaft, Stadt und Landkreis, Umweltschützern und Wirtschaftsverbänden. Von einstmals 54 Hektar sind „nur“ noch 8,5 Hektar übriggeblieben. Statt 40 Jahre wird maximal fünf Jahre gegraben. Und dennoch bleibt der schale Beigeschmack, dass Hagenwerder und einzelne Anlieger am Abbaugebiet alleingelassen wurden. Vertrauen wurde verspielt durch die Stadtverwaltung Görlitz. Als im Frühjahr 2019 das Genehmigungsverfahren vom Oberbergamt eröffnet wurde, hätte der Ortschaftsrat Hagenwerder informiert und angehört werden sollen. Selbst wenn es nach strenger Auslegung der Gesetze nicht zwingend nötig wäre. Aber allein wegen der Vorgeschichte und des aufopferungsvollen Kampfes halten wir es für eine moralische Verpflichtung. Vertrauen wurde auch beim Stadtrat verspielt, der 2019 ebenfalls keine Informationen darüber erhielt, dass es ein Genehmigungsverfahren gibt.

Die Stadtverwaltung hat dem Antrag 2019 nicht zugestimmt, wie uns Bürgermeister Michael Wieler mitteilte – mag sein. Aber sie hat auch nicht vehement widersprochen und damit Hagenwerder allein gelassen. Obwohl es gute Gründe gab zu intervenieren. Zehn Jahre nach dem ersten Genehmigungsverfahren der Landesdirektion hat sich vieles entwickelt, das nun unter dem Tagebau leiden wird, wie die „Ranch am See“. Dort muss Unternehmerin Marianne Thiel nun erleben, dass man in Deutschland für einen 20 Meter tiefen Tagebau offenbar weniger bürokratische Steine aus dem Weg räumen muss als für einen Ponyhof.

Die Auswirkungen der Genehmigung zum Kiesabbau sind heute noch nicht absehbar. Wir befürchten, dass es die Entwicklung von Hagenwerder zum attraktiven Ort am See um viele Jahre zurückwirft. Auch für das Naherholungsgebiet Berzdorfer See ist die Anlage Gift.

Umso ärgerlich ist die fehlende Transparenz des Rathauses, die sich bis heute fortsetzt. Es verstößt gegen die Sächsische Gemeindeordnung, dass der Stadtrat vom Oberbürgermeister nicht über die Genehmigung für den Tagebau informiert wurde. Stattdessen wurde eine nichtöffentliche Ausschusssitzung genutzt, deren Inhalte unter die Verschwiegenheitspflicht fallen. Dass einmal mehr weder Ortschaftsrat noch Anlieger informiert wurden, rundet das Bild ab: Es fehlt der Verwaltungsspitze an der grundsätzlichen Bereitschaft, jede wichtige Entwicklung mit den Menschen zu besprechen, die betroffen sind. Das ist Voraussetzung für jegliche Bürgerbeteiligung.

Ist der Tagebau noch zu verhindern? Die Chancen stehen schlecht, wenn man realistisch ist. Es wird sicherlich eine anwaltliche Beratung von Anliegern geben. Unsere Fraktion hat die Naturforschende Gesellschaft der Oberlausitz eingeschalten. Von den Fachleuten erhoffen wir uns Auskünfte, ob durch den Kiesabbau das in der Nähe befindliche Vogelschutzgebiet beeinträchtigt wird. In einem solchen Fall könnte eine Umweltverträglichkeitsprüfung und eine öffentliche Beteiligung erfolgen, unabhängig von der Größe des Abbaufeldes.