Stadtratsblog#18: 15.4.2021

Ausgerechnet vor der mit Spannung erwarteten Sondersitzung zum Neubau der Oberschule erwischt es mich: In der Familie grassiert Corona. Ich muss in Quarantäne, trotz durchgängig negativer Tests. Die Sitzung würde ich gern im Internet verfolgen. Aber OB und Mehrheit im Stadtrat halten das für unnötig, weil das zusätzlich Geld kosten würde. Lediglich Motor Görlitz/Bündnisgrüne und Die Linke sind für eine Liveübertragung, die seit zwei Jahrzehnten üblich ist. „Gerade in den Zeiten der Kontaktbeschränkungen halten wir es für ein sehr schlechtes Zeichen, der Bürgerschaft dieses wichtige Informationsmedium vorzuenthalten“, schreiben wir in einer Pressemitteilung.

 

So muss ich mich über unseren Fraktions-Chat informieren, was bei der Sitzung passiert. Es wird ein Krimi. Ein Tatort „neue Oberschule“:

Die Emotionen kochen hoch wegen des Beschlusses zum Neubau der Oberschule. Seitdem die Verwaltungsspitze im Februar das Thema „auf Eis“ legen wollte, kämpft unsere Fraktion dafür, dieses wichtige Projekt voranzutreiben. Es hat für uns oberste Priorität. Wer seine Kinder in Containern lernen lässt, kann sich nicht als familienfreundlich bezeichnen. Jegliche Imagekampagne läuft ins Leere. Wir schaden mit einer solch falschen Prioritätensetzung auch den hoffnungsvollen Neuansiedlungen und Vorhaben wie Casus, Bauen 4.0, neuen und etablierten mittelständischen Unternehmen. Schlechte Lernbedingungen für Kinder? Da wollen wir nicht hin.

Deshalb sprechen wir uns in der Sondersitzung konsequent für den Neubau der Oberschule aus. Dies betrifft zunächst einen Änderungsantrag der CDU-Fraktion, der im weiteren Sitzungsverlauf durch puren Zufall von einem AfD-Stadtrat übernommen wird. So kommt es dazu:

  1. Die CDU-Fraktion bringt im Verwaltungsausschuss (einen Tag vor dem Stadtrat) einen Änderungsantrag ein. Sie möchte nicht nur Planungsmittel für die Oberschule im Haushalt 2021/22 einstellen, sondern auch nötige Eigenmittel für spätere Förderanträge. Drei Millionen Euro werden im Investitionsplan (ist Teil des Haushaltes) für 2023/24 gefordert. Der Ausschuss tagte nichtöffentlich, deshalb darf nicht über Einzelheiten berichtet werden. Fragen, die man sich stellen darf: Hat der OB im Verwaltungsausschuss den Änderungsantrag klaglos über sich ergehen lassen oder bereits dort dagegen argumentiert? Hätte es keine Mehrheit für den Änderungsantrag gegeben – wäre er im Stadtrat gestellt worden? (Ausschüsse sind nach Stimmverteilung im Stadtrat besetzt und geben damit die Mehrheitsverhältnisse wieder.) Was ist zwischen Verwaltungsausschuss und Stadtratssitzung passiert?
  2. Im Stadtrat bringt Gerd Weise (CDU) den Änderungsantrag ein. Die Finanzamtsleiterin argumentiert dagegen. Logisch, sie möchte gern an ihrem Entwurf für den Haushalt festhalten. Zustimmung für den Antrag von AfD und Motor Görlitz/Bündnisgrüne. „Bürger für Görlitz“ lehnen ihn ab. OB Ursu erklärt, dass er dem Antrag nicht zustimmen wird und bittet darum, ihn zurückzuziehen. Begründung: Es gibt keinen Deckungsvorschlag. Das ist nicht stichhaltig. Deckungsvorschläge sind notwendig, wenn man Vorschläge macht, die in einen beschlossenen Haushalt eingreifen und nicht „gedeckt“ sind. Wir haben das Thema Oberschule auf ausdrücklichen Wunsch des OB außerhalb der Haushaltsgespräche behandelt. Welche Projekte in welcher Höhe in den Investitionsplan bis 2025 kommen, ist überhaupt noch nicht beraten oder gar beschlossen worden. Dennoch wackelt die CDU und beantragt eine Auszeit.
  3. Nach der Auszeit zieht Gerd Weise seinen Änderungsantrag zurück.
  4. Sebastian Wippel (AfD) und Jana Krauß (Motor/Grüne) melden sich nahezu parallel. Beide haben wohl dieselbe Idee…
  5. OB Ursu ruft zuerst Herrn Wippel auf. Dieser übernimmt den Änderungsantrag von Gerd Weise (CDU) nahezu wörtlich.
  6. Die Linke kann aufgrund ihres Selbstverständnisses keinerlei Antrag der AfD zustimmen. Sie hat wohl Sympathie für den Plan, drei Millionen Euro Eigenmittel einzuplanen. Aber nicht so. Sie möchte (aus taktischen Gründen) eine Verschiebung des Themas, damit weitere Beratungen möglich sind. Das findet keine Mehrheit.
  7. „Bürger für Görlitz“ begrüßen das Zurückziehen des Änderungsantrags durch die CDU. Nicht überraschend. Die Fraktion ist in der gesamten Schuldebatte auf Linie ihres Vereinsvorsitzenden Michael Wieler (gleichzeitig zuständiger Bürgermeister).
  8. Jana Krauß begründet, warum Motor/Grüne diesem Antrag zustimmen werden. Sie wirft Teilen des Stadtrates eine falsche Prioritätensetzung vor. Bei der Stadthalle wird das finanzielle Risiko nahezu ausgeblendet, bei der wichtigen Oberschule fehlt jeder Mut. „Wenn wir keine Eigenmittel einstellen: Wie wollen wir dann Fördermittel für den Schulbau bekommen?“
  9. Abstimmung zum Änderungsantrag. 18 Ja-Stimmen von Motor/Grüne, AfD und Gerd Weise (CDU). 16 Nein-Stimmen von Bürger für Görlitz und CDU. Enthaltungen von der Linken.
  10. Danach wird der „Hauptantrag“ beschlossen. Darin war die Stadtverwaltung bereits auf den Stadtrat zugegangen. Ursprünglich wollte sie den Grundsatzbeschluss zum Neubau der Oberschule aussetzen lassen. Kompromiss: Es wird am Grundsatzbeschluss festgehalten. Für 2021/22 werden 220.000 Euro Planungsmittel in den Haushalt eingestellt. Damit kann bis „Leistungsphase 3“ geplant werden. Was Voraussetzung ist, um Fördermittel für das Projekt zu beantragen. Nun also noch zusätzlich drei Millionen Euro Eigenmittel. Der gesamte Beschluss wird mit großer Mehrheit gefasst.

Wir haben konsequent für den Neubau der Oberschule gekämpft und abgestimmt. Dass die CDU wohl aus Loyalitätsgründen gegenüber ihrem Oberbürgermeister ihren eigenen Änderungsantrag zurückgezogen haben, ist bedauerlich. Die vorgebrachten Argumente des OB waren nicht stichhaltig und auch nicht neu. Insofern haben wir uns entschieden, für den Neubau der Oberschule und den CDU-Änderungsantrag zu stimmen, auch wenn dieser letztendlich von Stadtrat Wippel übernommen und verlesen wurde.

Warum hat sich Motor Görlitz/Bündnisgrüne für das Verankern von drei Millionen Euro für Eigenmittel im Investitionsplan 23/24 entschieden?

  1. Damit zeigt der Stadtrat klar seine Prioritäten. Der Neubau der Oberschule steht ganz oben, da der Bedarf bereits seit 2019 besteht.
  2. Dass über die Investitionsplanung für die neue Oberschule vor den Haushaltsverhandlungen debattiert wurde, ist nicht dem Stadtrat anzulasten. Es war der Wunsch des Oberbürgermeisters, der das Thema unbedingt in einer Sondersitzung beraten wollte.
  3. Wie sollen die drei Millionen Euro für die neue Oberschule finanziert werden? Der Stadtrat hat seinen politischen Willen erklärt. Die drei Millionen Euro für die Jahre 2023/24 sind gesetzt. Um dafür die nötige finanzielle Luft zu schaffen, sind Vorschläge aus Verwaltung und Stadtrat gefragt, wenn der Investitionsplan im Rahmen der Haushaltsverhandlungen beraten wird. Auf keinen Fall darf der Neubau der Oberschule zu Lasten von Sanierungen bestehender Schulen gehen.

Blick nach vorn: Schulbau-Ausschuss bilden

Aufgrund der großen Herausforderungen regen wir einen zeitweilig beratenden Ausschuss „Schulbau“ an. Neben dem Neubau der Oberschule gibt es finanzielle Probleme bei der Sanierung der Grundschule Königshufen. Es stehen weitere Sanierungen an Oberschulen an (Innenstadt, Melanchthonschule). Dafür wird eine Ausweichschule gebraucht. All diese Fragen sind so komplex, dass sie nicht nebenbei in Ausschüssen behandelt werden sollten. Diesen Weg ist der Stadtrat bei der Stadthalle gegangen. Wir sind uns sicher, dass das Thema Bildung einen ähnlichen Stellenwert genießt.

 

Was sonst noch geschieht:

Alle Beschlüsse aus der März-Sitzung müssen nochmals abgestimmt werden, da die letzte Sitzung wegen Fehlern beim Auswechseln von zwei AfD-Stadträten für ungültig erklärt wurde. Eigentlich eine Formsache: Man stimmt so ab, wie vor drei Wochen. Möchte man zumindest meinen. Doch dann geschieht folgendes:

Was wir von der Fraktion Motor Görlitz/Bündnisgrüne für Demokraten seien?!?

Man wird doch mal seine Meinung ändern dürfen!

Da hätten wir im Vorfeld halt nochmal mit den anderen Fraktionen sprechen müssen!!!

Der Mann, der aufgeregt ins Mikro zu meinen vier Kolleginnen und Kollegen spricht, ist Matthias Urban, Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Görlitzer Stadtrat. Eine Minute zuvor hatte Oberbürgermeister Ursu unseren Antrag aufgerufen „Meilensteinplanung für eine Digitalisierungsstrategie“.

  1. Der Oberbürgermeister wird beauftragt, ein Konzept zu erarbeiten, wie künftig die Digitale Transformation als Querschnittsaufgabe der Stadtentwicklung umgesetzt werden soll (Digitalisierungsstrategie).
  2. Das Konzept ist Grundlage für einen Prozess, der die Digitale Transformation in der Stadt Görlitz für alle Lebensbereiche entwickelt. Leitfaden ist dabei die nationale „Smart City Charta“.

Vor drei Wochen im Stadtrat bereits mit großer Mehrheit beschlossen. Wie alle Vorlagen muss sie nochmals behandelt werden, da es im März formale Fehler beim „Entlassen“ von zwei AfD-Räten gab. Es ist Ehrensache unter den Fraktionen, dass so abgestimmt wird wie im März. Bezogen auf unseren Digi-Antrag hieß das: 23 Ja, 4 Nein, 9 Enthaltungen. Im Vorfeld kein einziges Wort von CDU, AfD oder BfG zu unserem Antrag. Als in der Sondersitzung der OB nach Wortmeldungen fragt: Stille. Also alles bestens? Denkste. Die Abstimmung: 4 Ja. 25 Nein. 9 Enthaltungen. Man kann es nicht anders sagen: Hier wurde ein bereits beschlossener Antrag hinterrücks erdolcht. Die CDU hat an dieser Stelle übrigens gegen ihren Oberbürgermeister gestimmt. Ursu votiert für die Vorlage. Das gibt uns Hoffnung, dass der OB das Thema vorantreibt, unabhängig vom Stadtratsbeschluss. Octavian Ursu kommt ohnehin nicht drum rum. Sonst bleibt die „Stadt der Zukunft“ eine „Vorwärts immer – Rückwärts nimmer“-Losung der Neuzeit.

Treppenwitz des Abends: Nachdem unser Digi-Antrag abgeräumt wurde, erwischt es direkt danach eine zweite Vorlage. Der bestehende Ausschuss Umwelt und Ordnung soll geteilt werden in die Ausschüsse Umwelt/Klimaschutz/Nachhaltigkeit sowie Ordnung/

Sicherheit/Prävention. Nachdem es Ende März dafür eine (knappe) Mehrheit gab, fällt der Antrag diesmal durch. An uns lag es nicht, wir haben uns enthalten, nachdem wir im März noch dagegen votierten. Der Antrag stammte von der CDU, die sich nun ihrerseits wundern durfte, was Teile dieses Stadtrates unter Verlässlichkeit verstehen.

Es ist für mich die bislang spannendste Sitzung gewesen. Einen solchen Krimi gibt es selten. Ihn aus Distanz zu verfolgen eine Tortur. Ich bin am Ende fix und fertig – und sehr stolz auf das Team von Motor Görlitz/Bündnisgrüne wegen der Kraft und Konsequenz.

 

Text: Mike Altmann